Auf unserem gemeinsamen Weg erleben wir von Zeit zu Zeit Dinge, die uns tief berühren. Die uns zutiefst in dem bestärken was wir tun und warum wir es tun. Eines dieser Erlebnisse möchten wir hier mit euch teilen:


Ein Rückfall – und eine Landung...

-- nach einer wahren Geschichte --

Ich bin Lucas. 32 Jahre alt, Industrietechniker, Kletterer, Rennradler und Vereinsmitglied im Mountain Activity Club e.V.. So kann ich mich seit kurzem vorstellen. Hättet ihr mich früher getroffen, irgendwann zwischen 15 und 29, wäre das Kennenlernen allerdings ein anderes gewesen. Da hätte es geheißen: Drogenabhängiger, Drogendealer, Heroinkonsument. Ich hoffte diese Zeit liege weit hinter mir. Für eine Nacht im September 2019 war sie leider wieder ganz nah. Und schwingt seitdem nach. Dies ist die Geschichte dieser Nacht, inklusive ihrem davor und ihrem danach. Dies ist die Erzählung des Rückwegs nach einem Rückfall. Und vielleicht eine kleine Hilfe für Menschen, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden.

Zwischen meinem Dasein als Drogensüchtiger und der als Sportler lagen zwei Jahre der Umgewöhnung, die mit sechs Monaten vollstationärer Therapie begannen, gefolgt von Adaptions- und Nachsorge-WG um langsam wieder ins selbstorganisierte und vor allem selbstverantwortliche Leben zurückzufinden. Das hat geholfen, aber eine große Frage blieb unbeantwortet: Wohin mit der ganzen freien Zeit, die noch vor kurzem für Drogen draufging??? Die alten „Freunde“ wieder kontaktieren fällt raus, da kann man sich auch gleich wieder selbst Stoff besorgen, Rückfall ist dann quasi vorprogrammiert. Neue Freunde? Nach Monaten in einer geschlossenen Therapieeinrichtung, in einer neuen Stadt, als Ex-Junkie? No Chance! Also was tun? In meiner Adaptions-WG erzählte mir ein Mitarbeiter vom Mountain Activity Club e.V. (M.A.C.). Dieser versucht genau an der Stelle anzusetzen, seine neu gewonnene Freizeit sinnvoll zu gestalten. Regelmäßige Bouldertrainings, Ausflüge in die Natur zum Wandern oder Klettern mit einer toller Gemeinschaft und die Möglichkeit offen mit seiner Vergangenheit umzugehen. Genau das was ich in dem Moment brauchte. Die Leute dort helfen sich quasi gegenseitig. Das Konzept hat mich sofort überzeugt.

Beim M.A.C. ging alles ziemlich flott. Man wird sehr schnell Teil der Gruppe, auch weil viele hier ähnliche Erfahrungen hinter sich haben. Man muss sich nicht verstellen und nichts verstecken. Das tut verdammt gut. Boulder-Training ist immer montags und donnerstags und nach kurzer Zeit war es als wäre es nie anders gewesen. Die neuen Menschen, Erfahrungen und der sportliche Ehrgeiz, der mich gepackt hat, waren für mich und meine Entwicklung extrem wichtig, weil es mir zeigte für was es sich alles lohnt, clean zu bleiben und wie geil und möglich es ist Spaß und Gemeinschaft ohne Drogen zu erleben. Und dass dieses neue Leben macht Spaß, auch wenn man immer gedacht hatte nüchtern wird etwas fehlen. Ich fühlte mich angekommen. Ich fühlte mich irgendwie „daheim“.

In dieser Zeit habe ich auch wieder einen Job gefunden, über eine MPU meine Abstinenz nachgewiesen und so meinen Führerschein zurückbekommen, ein Auto gekauft, sogar wieder ein paar Dates gehabt. Alles war bombe. 28 Monate lang.

Hochmut kommt vor dem Fall wie man so schön sagt. In diesem Fall – Rückfall.

Umso mehr ich in meinem neuen Leben Fuß fasste, umso mehr vergaß ich auf mich Acht zu geben; mir auch mal eine Ruhepause zu gönnen. Man will vielleicht die verlorene Zeit nachholen, keine Ahnung. Ich trainierte immer öfters und immer intensiver und stürzte mich mehr und mehr in die Arbeit. Der Stresspegel stieg stetig ohne dass ich dies spüren wollte. Nach drei Wochen hartem Schichtdienst war es dann soweit: Sommerfest in der Arbeit, Belohnung für die ganze Schufterei. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte war, dass es kein alkoholfreies Bier gab. Auf meiner Erfolgswelle reitend dachte ich mir „komm, eins kannst du dir schon gönnen“. Natürlich hätte ich wissen müssen, dass Alkohol für mich ein Türöffner zu noch härteren Drogen gewesen ist und immer wieder sein kann. Wie gesagt, Stress, weniger Widerstandskraft, Erfolg, ein paar sich erlaubende Gedanken, ein bisschen du-hast-es-ja-im-Griff-Sülze und schon ging es ab.

Natürlich blieb es nicht bei einem Bier. Man wird gelöst, es macht Spaß, die anderen trinken, bald waren wir bei fünf Bier. Auf dem Heimweg begann meine Nase schon zu jucken. Die Schalter waren da schon umgelegt. Mein Suchtgedächtnis übernahm das Ruder und steuerte mich gnadenlos ans Ziel: Heroin. Im Nachhinein ist es verdammt beängstigend zu sehen wie absurd und zielstrebig deine Gedanken und Entscheidungen abdriften können, wenn man sein Kontrollzentrum ausknipst. Bestens trainiert findet die Sucht dann ihren Weg, egal in welcher Stadt, an welchem Ort du bist…

Also ab zum Bahnhof, Leute anquatschen. Schnell fand ich einen unbekannten Typen, der uns Stoff besorgt hatte, und wir gingen in die nächste Tiefgarage. Den Schuss fertig zu machen dauerte nicht lange. Ich setze mir die Nadel und drückte ab. Das wohlig warme Gefühl schoss durchs Blut; ich dachte noch dass der Stoff verdammt gut war. Dann kam das Gefühl, alles kribbelt, etwas in mir setze aus, ich fiel innerlich zusammen und die Lichter erloschen. Überdosis. Ende und Aus! Ein verfluchter Klassiker bei Leuten die lange nicht mehr konsumiert haben.
Der Körper ist entwöhnt, man erinnert sich aber nur noch an das „gute Gefühl“. Nach der langen Entwöhnung ist oft schon die einst übliche Dosis ein Killer, wenn das Zeug dann auch noch gut ist…
Der Typ neben mir war gottseidank so geistesgegenwärtig einen Krankenwagen zu rufen. Nicht selbstverständlich; nicht selten rennen die Leute in Panik weg und lassen dich verrecken. Als die Rettung eintraf, hatte meine Atmung schon ausgesetzt. Ich musste reanimiert und beatmet werden. Dank einem Medikament namens Naloxon, welches das Heroin aus dem Hirn treibt überlebte ich knapp. Aufgewacht bin ich einen Tag später auf der Intensivstation. Dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen.

Zurück im Leben geht sofort das Kopfkarusell ab. Selbstvorwürfe: Wut. Trauer. Eine unglaubliche Scham. Angst vor dem Ende. Hilflosigkeit. Totale Verzweiflung. Dieser Zustand ist schwer zu beschreiben. Meine Welt ist für mich in diesen Stunden zusammengebrochen. Ich habe geweint, ich habe mich gehasst. Ich dachte jetzt ist alles vorbei.

Wieder daheim war ich völlig neben mir und absolut ruhelos. Was tun? In dem Moment meldete ich mich bei denen, von denen ich hoffte, sie wüssten was ich gerade durchmachte, bei meinen Leuten vom MAC. Ich fragte ob jemand mit mir bouldern gehen wolle, und Pascal stand glücklicherweise Gewehr bei Fuß. Im Café Kraft angekommen stieg ich zitternd die Wände hoch und erzählte Stück für Stück von meinen letzten 24 Stunden. Dies offen und ehrlich tun zu können war so unendlich gut und ich spürte wie langsam wieder Ordnung und Ruhe in meine Gedanken einziehen konnte. Im Nachhinein hat es mir glaube ich - neben meinem Mut mich zu öffnen - den Arsch gerettet. Ich fiel nicht alleine und stürzte nicht ins Bodenlose, sondern hatte ein Netz und wurde aufgefangen. Danke Pascal!
In den folgenden Tagen sprach ich mit vielen Mitgliedern und erfuhr Mitgefühl und Unterstützung. Ich wurde angeschrieben und gefragt wie es mir geht, ich wurde mit zum Klettern genommen, wir sind gemeinsam in die Sauna. Ich war mit meinem Schmerz, meinem Thema nicht länger allein. In einem meiner schwächsten Momente nicht verurteilt, sondern unterstützt und gesehen zu werden, hat mir unglaublich geholfen. Ich bin wieder auf die Beine gekommen und es blieb seit dem bei diesem einen Rückfall. Ich klettere wieder, ich fahre wieder Rad und nun war ich mit dem MAC eine Woche Bouldern in Fontainebleau auf unserem Clean Climbing Camp. Ich bin wieder zurück auf den Beinen, auch wenn sie noch ein bisschen wackelig sind bei dem Gedanken an das Über-Lebte. Die Gemeinschaft, der Rückhalt und der Support haben mich auf Kurs gehalten und mir die Kraft gegeben, die plötzlich wie weggeblasen war. Ich weiß wieder und vielleicht sogar mehr denn je, was es mir bedeutet ist clean zu bleiben.

Ich hoffe dass dieser Text auch anderen helfen kann. Zu straucheln ist nicht angenehm, zu stürzen erst recht nicht. Aber mit der richtigen Einstellung und Menschen die dich zu fangen bereit sind kann man wieder in die Spur kommen. Sucht euch und findet hoffentlich so eine Gemeinschaft. Und: bleibt stark.

Für die Bereitschaft und Offenheit, diese intimen Einblicke mit euch zu teilen, möchten wir dem Betroffenen an dieser Stelle von Herzen danken.